Die Gittertäuschung
Betrachten Sie doch einmal bitte die folgende Graphik:
Das HERMANN-Gitter
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.
Schauen Sie ganz entspannt auf das Gitter. Sie müssten jetzt eigentlich dunkle Flecke auf den Kreuzungspunkten sehen, zumindest auf den Kreuzungspunkten, die Sie nicht gerade fixieren.
Wie kommt diese Gittertäuschung nun zustande? Im Gehirn? Nein, bereits in der Netzhaut wird diese Täuschung erzeugt - hatte man jedenfalls mehr als 30 Jahre lang geglaubt.
Schauen wir uns nun einen kleinen Ausschnitt aus diesem Gitter an:
Ein Ausschnitt aus dem HERMANN-Gitter
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.
Der Ausschnitt enthält wieder einen kleineren Ausschnitt, und wir wollen uns nun anschauen, wie dieser kleine Ausschnitt auf die Sehzellen der Netzhaut projiziert wird:
Ein Ausschnitt aus dem obigen Ausschnitt. Die Kreise sollen einzelne Sehzellen darstellen.
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.
Die obige Abbildung soll einen winzig kleinen Ausschnitt der Netzhautschicht zeigen, in der die Sehzellen liegen. Vier dieser Photorezeptoren werden gerade belichtet, die anderen Sehzellen werden nicht belichtet.
"Unterhalb" der Photorezeptorenschicht finden wie noch weitere Schichten von Nervenzellen in der Netzhaut. Die folgende Abbildung stellt das extrem vereinfacht dar:
Eine Netzhaut mit dreischichtigem Aufbau. R = Photorezeptoren, B = Bipolarzellen, G = Ganglienzellen, SZ = Sehzentrum im Gehirn.
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.
In der zweiten Zellschicht sehen wir die Bipolarzellen (B). Die Photorezeptoren (R) ganz links und ganz rechts sind nicht belichtet, produzieren also erregende Neurotransmitter, was durch die grünen Pfeile angedeutet wird. Die belichteten Photorezeptoren in der Mitte stellen die Neurotransmitter-Produktion weitgehend ein, weil ihnen ja das cGMP ausgeht, welches die Natriumkanäle offen gehalten hat.
Die Bipolarzellen in der Mitte, unter den belichteten Photorezeptoren, sind also inaktiv, die Bipolarzellen links und rechts dagegen aktiv, was hier durch graue bzw. grüne Farbe angedeutet wurde.
Die aktiven Bipolarzellen produzieren nun hemmende Neurotransmitter (rote Pfeile), welche die Ganglienzellen (G) daran hindern, aktiv zu werden und Aktionspotenziale zum Gehirn zu schicken (SZ = Sehzentrum).
Diese Art der Darstellung mit drei Zelltypen mag zwar sachlich vielleicht korrekt sein, sie ist aber viel zu kompliziert, um die laterale Inhibition zu verstehen. Daher werde ich eine wesentlich einfachere Darstellung verwenden, wie sie auch in den meisten Schulbüchern der Sekundarstufe II üblich is bzw. war:
Vereinfachte Darstellung des dreischichtigen Netzhautaufbaus.
Ich habe hier einfach die Photorezeptoren, die Bipolarzellen und die Ganglienzellen zu einem Zelltyp zusammengefasst. Nun sieht es so aus, als würden sich die Photorezeptoren wie normale Sinneszellen verhalten und bei Belichtung Aktionspotenziale produzieren (hier: 100 AP/s), während sie im Dunklen dagegen inaktiv sind (hier: 0 AP/s).
Laterale Inhibition
Aber bei der lateralen Inhibition bzw. gegenseitigen Hemmung sind wir immer noch nicht. Dazu müssen wir die fiktiven "Photorezeptoren" ("fiktiv" deswegen, weil sie in Wirklichkeit aus drei Zellen bestehen) noch etwas komplexer miteinander verbinden:
Verschaltung der "Photorezeptoren" in der Netzhaut
Jeder "Photorezeptor" hemmt die benachbarten Rezeptoren um einen bestimmten Betrag, hier wurden 10% Hemmung angenommen. Ein "Photorezeptor", an dessen "Axon" also 100 APs/s gemessen werden, soll die benachbarten Axone um je 10 APs/s hemmen.
Betrachten wir mal den "Photorezeptor" C. Er wird voll belichtet, sendet also 100 Aktionspotenziale pro Sekunde. Er hemmt seine benachbarten Zellen also mit jeweils 10% = 10 AP/s.
Gleichzeitig wird er aber auch von seinen beiden Nachbarn B und D gehemmt. D ist ebenfalls voll belichtet, also werden 10 AP/s abgezogen. B dagegen wird nicht belichtet, erzeugt also keine Aktionspotenziale. Also kann durch "Photorezeptor" B bei C auch nichts abgezogen werden. Von den 100 AP/s bei Zelle C werden also 10 AP/s durch Zelle D abgezogen.
Bei Zelle B wird von den 0 AP/s ein Betrag von 10 AP/s wegen der belichteten Zelle C abgezogen, so kommt der - rein rechnerische Wert - von -10 zustande. An dieser Stelle sollte klar werden, dass diese Zahlen nur mit äußerster Vorsicht als "Aktionspotenziale pro Sekunde" interpretiert werden dürfen. Vielmehr handelt es sich bei dieser Zahl um ein Maß für die Erhöhung bzw. Verringerung der Aktivität der Zelle, und ein Betrag von -10 bedeutet eben, dass die Zelle jetzt vielleicht 10 AP/s weniger sendet als zuvor, im nicht-gehemmten Zustand.
Sinn und Zweck der lateralen Inhibition ist hier eine Kontrastverstärkung. An der Grenze zwischen Dunkel und Hell bzw. zwischen Hell und Dunkel liefern die belichteten Zellen einen "noch helleren" und die nicht belichteten Zellen einen "noch dunkleren" Eindruck als ohne die laterale Inhibition.
Betrachten Sie dazu folgende einfache Graphik:
Vereinfachte Darstellung des dreischichtigen Netzhautaufbaus.
Die weiße Kurve zeigt die Aktivität der "Photorezeptoren" ohne laterale Inhibition, während die blaue Kurve die Auswirkung der lateralen Inhibition darstellt.
Ich habe die laterale Inhibition sehr stark vereinfacht dargestellt. Wie bereits gesagt, sind in Wirklichkeit zwei verschiedene Typen von Bipolarzellen (ON- und OFF-Zellen), Ganglienzellen und ein weiterer Zelltyp, die Horizontalzellen, an der lateralen Inhibition beteiligt.
Die letzte Abbildung kann auch die HERMANNsche Gittertäuschung erklären. Dort, wo die weißen Kreuzungspunkte sind, kommt es zur Kontrastverstärkung durch laterale Inhibition. Die Ränder der weißen Quadrate sind besonders hell (Maxima der blauen Kurven in der obigen Abbildung), während die Zentren der weißen Quadrate "normal" hell sind. Das Gehirn interpretiert diese "normale" Helligkeit dann als dunklere Punkte.
Neuere Erkenntnisse zur Gittertäuschung
Heute weiß man, dass die Erklärung nicht mehr ganz so einfach ist. Man hat das HERMANN-Gitter modifiziert, zum Beispiel statt der geraden weißen Linien gewellte Linien genommen. Und zur Überraschung der Wissenschaftler gab es auf den weißen Kreuzungen keine dunklen Erscheinungen mehr. Eine vernünftige Erklärung für dieses seltsame Verhalten hat die Wissenschaft aber noch nicht, man vermutet, dass die Gittertäuschung nicht nur durch die laterale Inhibition in der Netzhaut zustande kommt, sondern dass auch bestimmte Zentren des Gehirns daran beteiligt sind und dass überhaupt alles viel komplizierter ist, als man bisher angenommen hat. Aber da sich die Wissenschaftler selbst noch nicht einig sind, wie man die Gittertäuschung am besten erklärt, werde ich auf dieser Seite auch nicht noch tiefer auf dieses Thema eingehen.