Helmichs Biologie-Lexikon

Glycocalyx

"Die Zellmembran trägt an ihrer Außenseite einen Pelz: Die Glycocalyx" [1].

Die Glycolipide und Glycoproteine der Zellmembran tierischer Zellen befinden sich ausschließlich auf der Außenseite der Zellmembran. Dort bilden sie eine Kohlenhydratschicht, die als Glycocalyx (Kohlenhydratschicht) bezeichnet wird.

Modell einer Glycocalyx
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Die Glycocalyx (oft auch Glycokalix oder Glycokalyx oder gar Glykokalix geschrieben) besteht aus der Gesamtheit der Oligosaccharid-Ketten der integralen und peripheren Glycoproteine sowie der Glycolipide. Diese Glycocalyx sieht auf elektronenmikroskopischen Aufnahmen von Tier- oder Bakterienzellen tatsächlich wie ein "Pelz" aus, da sie sehr ungleichmäßig strukturiert ist und bis zu 100 nm dick sein kann [1].

Pflanzliche Zellen haben keine G., dafür aber eine stabile Zellwand, die ebenfalls aus Kohlenhydraten besteht. Prokaryotische Zellen können eine Schleimschicht außerhalb der Zellwand haben, diese hat Ähnlichkeit mit der G. tierischer Zellen, ist aber anders zusammengesetzt.

Zusammensetzung

Neben "gewöhnlichen" Kohlenhydraten wie Glucose, Galactose oder Mannose kommen auch viele Aminozucker und N-acetylierte Aminozucker in der Glycocalyx vor.

Glucosamin und N-Acetyl-Glucosamin
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Links sehen wir den Aminozucker Glucosamin. Die OH-Gruppe am zweiten C-Atom wurde durch eine Aminogruppe ersetzt.

Die OH-Gruppe eines Alkohols (oder Zuckers) kann bekanntlich mit der COOH-Gruppe einer Carbonsäure zu einem Ester reagieren. Auch die NH2-Gruppe eines Amins kann mit einer COOH-Gruppe reagieren, auch hierbei wird ein Wasser-Molekül abgespalten. Das Ergebnis einer solchen Kondensation von Glucosamin mit Essigsäure ist N-Acetyl-Glucosamin. Der Buchstabe 'N' weist darauf hin, dass die Essigsäure mit der NH2-Gruppe des Aminozuckers reagiert hat und nicht mit einer der drei OH-Gruppen in dem Molekül.

N-Acetylglucosamin wird vor allem von Asparagin und Serin gebunden
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Auf diesem Bild sieht man, wie sich ein Protein mit einem Monosaccharid verbindet. Die OH-Gruppe am C-Atom Nr. 1 des Monosaccharids reagiert unter Abgabe von Wasser (Kondensation) mit der NH2-Gruppe einer Asparagin-Seitenkette (links). Dabei entsteht dann eine N-glycosidische Bindung. Das Kohlenhydrat kann aber auch mit der OH-Gruppe einer Serin-Seitenkette reagieren (rechts). Dabei entsteht dann eine O-glycosidische Bindung, wie man sie von normalen Disacchariden oder Polysacchariden kennt.

Einige dieser Zucker-Reste tragen negative Ladungen, andere positive Ladungen. Die Zuckerreste der G. ziehen sich also teilweise gegenseitig an, was die relativ hohe Stabilität der G. erklärt.

Glycolipide

Auf dieser Seite finden Sie viele Informationen zu den Glycolipiden der Zellmembran. Auch sind hier alle neun Monosaccharide abgebildet, die in der Glycocalyx vorkommen.

Bildung der Oligosaccharide

Wenn ein Protein an den Ribosomen gebildet wird (Proteinbiogenese), dann werden ausschließlich Aminosäuren zusammengebaut. Die Ribosomen sitzen aber zum größten Teil an der Membran des endoplasmatischen Reticulums (raues ER), und die entstehenden Proteine werden in das Lumen des ER abgegeben. Dort finden dann chemische Modifizierungen der Proteine statt (posttranslationale Modifikation oder posttranslationale Prozessierung). Dazu gehört auch das "Anbringen" von Oligosaccharid-Ketten an bestimmte Proteine. Im Lumen des rauen ER beginnt also bereits die Bildung der Glycocalyx. Das ER schnürt dann Vesikel ab, die zu den Zisternen des Golgi-Apparates wandern. In der Membran dieser ER-Vesikel befinden sich dann auch die Glycoproteine und Glycolipide der künftigen Glycocalyx. Im Golgi-Apparat findet eine weitere Modifizierung der Oligosaccharid-Ketten statt. Die Golgi-Zisternen ihrerseits schnüren dann Golgi-Vesikel mit den Glycoproteinen und Glycolipiden ab, die dann mit der Zellmembran verschmelzen und so die Glycoproteine und -lipide ergänzen. Durch laterale Diffusion breiten sich die "Neuankömmlinge" schnell in der Membran aus.

Oligosaccharid-Prozessierung im Golgi-Apparat

Auf dieser Vertiefungsseite wird eingehender beschrieben, wie die Oligosaccharide im Golgi-Apparat an die Glycoproteine (und Glycolipide) angeheftet werden.

Aufmerksame Betrachter und Betrachterinnen werden sich schon längst die Frage gestellt haben, wer oder was denn die genaue Zusammensetzung der Oligosaccharide bestimmt, die an den Lipiden und Proteinen der G. sitzen. Die Zusammensetzung der Proteine wird ja durch den genetischen Code bestimmt, die Aminosäure-Sequenz eines Proteins ist durch die Basensequenz der DNA vorbestimmt. Wer aber legt fest, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Monosaccharide zu einem Oligosaccharid zusammengebaut werden sollen. Gibt es hier neben dem genetischen Code einen weiteren Code?

Die Reihenfolge des Oligosaccharid-Zusammenbaus wird bestimmt von den Enzymen, die dafür zuständig sind. Für jedes Monosaccharid gibt es im Golgi-Apparat eine spezifische Glycosyl-Transferase, und die Reihenfolge, in der diese Enzyme ihre Monosaccharide auf das wachsende Oligosaccharid übertragen, ist genetisch festgelegt [1].

Exkurs: Blutgruppen A, B, AB und o

Glycolipide der Blutgruppen A und B
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

Diese genetische Festlegung ist beispielsweise ganz wichtig, wenn es darum geht, die Blutgruppe (A, B, AB oder o) eines Menschen festzulegen. Die Blutgruppen werden durch Glycolipide auf der Membran der roten Blutkörperchen bestimmt, und die Oligosaccharide der Blutgruppen unterscheiden sich nur minimal. Erythrocyten der Blutgruppe A haben am Ende ihrer spezifischen Glycocalix-Oligosaccharide das Monosaccharid-Derivat N-Acetylglucosamin (siehe Abbildung 2 und 3) während rote Blutkörperchen der Blutgruppe B statt dessen das Monosaccharid Galactose besitzen. Rote Blutkörperchen der Blutgruppe o haben weder N-Acetylglucosamin noch Galactose am Ende des Oligosaccharids.

Vererbung der Blutgruppen

Auf dieser Seite in der Genetik-Abteilung meiner Homepage erfahren Sie mehr über die Vererbung der Blutgruppen, über Blutgruppen-Antigene und -Antikörper und vieles mehr.

Funktionen

Die Glycocalyx hat mehrere Funktionen [2,3].

  • Sie stellt einen mechanischen Schutz der Zelloberfläche dar.
  • Sie hält sie die Zelloberfläche feucht. Kohlenhydrate absorbieren nämlich Wasser, dadurch wird die Zelloberfläche schleimig und die Zellen gewinnen an Beweglichkeit. Rote Blutkörperchen würden ohne die schleimige Oberfläche zu leicht an den Wänden der Blutgefäße kleben bleiben.
  • Die Kohlenhydrate der Glycocalyx dienen auch zum Anheften der Zellen an bestimmte Substrate, zum Beispiel auf dem Zahnschmelz.
  • Außerdem ist die Glycocalyx ein Bestandteil der Wand der Blutgefäße, sie verhindert u.a., dass das Blutplasma die Blutgefäße verlässt und in das umgebende Gewebe eintritt.
  • Bei der Zellerkennung spielen die Kohlenhydrate der Glycocalyx ebenfalls eine wichtige Rolle. Rote Blutkörperchen haben je nach Blutgruppe eine unterschiedliche Ausstattung mit Glycolipiden in der Glycocalyx. Gelangen Erythrocyten der Blutgruppe A beispielsweise in Blut der Blutgruppe B, so setzen sich A-spezifische Antikörper an die A-Blutkörperchen und verklumpen diese.
    Auch bei der Unterscheidung körpereigener und körperfremder Zellen spielt die Glycocalix der Zellen eine entscheidende Rolle. Eingedrungene Krankheitserreger (Viren, Bakterien) können so vom Immunsystem erkannt werden.
    Bei der Befruchtung müssen die Spermien die Eier erkennen. Auch hierfür sind bestimmte Oligosaccharide in der Glycocalyx des Spermiums verantwortlich.
    Wachsende Nervenzellen nehmen mit ihren Dendriten und synaptischen Endigungen Kontakt mit anderen Nervenzellen auf. An der Kohlenhydrat-Zusammensetzung der Zellmembranen dieser Zellen erkennen die Nervenzellen, ob sie eine Verbindung herstellen können.

"In einem vielzelligen Organismus kann somit die Kohlenhydratschicht auf der Zelloberfläche als eine Art unverwechselbare Kleidung dienen, wie die Uniform eines Polizisten. Sie ist charakteristisch für jeden Zelltyp und wird von anderen Zellen erkannt, mit denen diese Zelle in Wechselwirkung tritt. [3]"

Besser kann man es nicht zusammenfassen!

Anhang 1: Experiment zur Zellerkennung

In [1] findet man ein schönes Experiment, das die Rolle der Glycocalix bei der Zellerkennung unterstreicht. Schwämme (Porifera) sind sehr primitive, sesshafte Tiere ganz am Anfang des Tierreichs. Mit ihnen kann man wunderschöne Experimente zur Regeneration von Geweben durchführen.

Experimente mit Schwämmen
Autor: Ulrich Helmich 2022, Lizenz: siehe Seitenende

A) Man nimmt zwei verschiedene Schwämme mit unterschiedlich gefärbten Zellen.

B) Die Schwämme werden in ihre Einzelzellen zerlegt.

C) Die Zellen der Schwämme werden nun gemischt.

D) Es werden neue kleine Schwämme regeneriert.

Was ist nun das Tolle an diesem Experiment?

Es entstehen keine "Misch-Schwämme", die roten Zellen erkennen nur die anderen roten Zellen als "körpereigen" an und verbinden sich mit diesen zu neuen Geweben, aus denen dann neue rote Schwämme entstehen. Und die gelben Zellen bleiben ebenfalls unter sich. Es entstehen keine orangefarbenen Misch-Schwämme.

Dies ist ein eindrucksvolle Beispiel für die wichtige Aufgabe der Glycocalix für die Zellerkennung.

Anhang 2: Weitere Beispiele für Zellerkennung

Nervengewebe

Ein weiteres Beispiel für die Leistung der Glycocalix ist die Bildung von Nervengeweben. Nervenzellen wachsen mit ihren Dendriten und Axonen und bauen Verbindungen (Synapsen) zu anderen Nervenzellen oder Muskelzellen auf. Wie erkennt jetzt eine wachsende Nervenzelle, ob es sich bei der Zelle, die sie mit ihren Dendriten oder Axonen berührt, um eine solche Zelle handelt? Auch hier ist wieder die Glycocalix von entscheidender Bedeutung. An der Oligosaccharid-Zusammensetzung der G. erkennt die Nervenzelle ihre Zielzellen.

Das ist extrem wichtig, weil sonst das Axon einer motorischen Nervenzelle mit einer Sinneszelle Kontakt aufnehmen könnte, was absolut sinnfrei wäre.

Kontaktinhibition und Teilungsinhibition

Wenn Gewebe entstehen oder sich regenerieren, teilen sich ständig Zellen und wachsen wieder zu ihrer ursprünglichen Größe heran. Sobald eine Zelle aber so groß geworden ist, dass sie andere Zellen des Gewebes berührt, stellt sie ihr Wachstum ein: Kontaktinhibition. Das "Wissen" um diese Kontaktaufnahme wird ebenfalls durch die Glycocalix vermittelt.

Das Gleiche gilt auch für Zellteilungen. Zur Bildung und Regeneration von Geweben ist es unerlässlich, dass sich Zellen teilen. Ist das Gewebe aber "fertig", besteht keine Notwendigkeit mehr für weitere Zellteilungen. Durch die von der Kontaktaufnahme vermittelte Teilungsinhibition werden weitere Zellteilungen verhindert.

Bei Krebszellen ist sowohl die Kontakt- wie auch die Teilungsinhibition ausgehebelt, sie funktionieren nicht mehr. Das erklärt das Wuchern von Tumoren und Krebsgeschwüren. Die Kontaktinhibition führt auch dazu, dass sich Krebszellen aus ihrem Gewebe lösen und im Körper "Ableger" bilden, sogenannte Metastasen.

Quellen:

  1. Plattner, Hentschel. Zellbiologie, 5. Auflage. Stuttgart 2017.
  2. Wikipedia, Artikel "Glycocalyx".
  3. Alberts, Bruce et al. Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie, 5. Auflage, Weinheim 2021.