Helmichs Chemie-Lexikon

van-der-Waals-Kräfte

Die drei van-der-Waals-Wechselwirkungen

Neben den starken chemischen Bindungen (kovalente Bindung, Ionenbindung und metallische Bindung) gibt es zwei Arten von schwachen chemischen Bindungen, nämlich die (relativ starken) Wasserstoffbrücken-Bindungen und die (relativ schwachen) van-der-Waals-Wechselwirkungen bzw. -bindungen bzw. -kräfte.

Grundsätzlich kann man drei Typen der van-der-Waals-Wechselwirkungen beobachten.

  1. Anziehung permanenter Dipol - permanenter Dipol (Keesom-Wechselwirkung)
  2. Anziehung permanenter Dipol - polarisierbares Teilchen (Debye-Wechselwirkung)
  3. Anziehung polarisierbares Teilchen - polarisierbares Teilchen (London-Wechselwirkung

Für Experten LK, Studium

Während bei Ionenbindungen (starke Bindung) die Anziehungskraft zwischen den Ionen mit der 2. Potenz des Radius abnimmt, gilt für die drei Typen der van-der-Waals-Wechselwirkung folgende Beziehung:

$F = k * \frac{z_{1}z_{2}}{r^{6}}$

mit F = Anziehungskraft, k = Konstante, z1, z2= Ladungen der beiden sich anziehenden Teilchen (eigentlich nur für permanente Dipole relevant). Die Anziehungskraft nimmt also mit der 6. Potenz des Radius ab. Das heißt, die Anziehungskraft wird mit zunehmender Entfernung sehr viel schneller schwach als bei der Ionenbindung.

Angenommen, die Entfernung zwischen zwei Teilchen betrage 10 Einheiten und die Teilchen ziehen sich mit 4000 Einheiten gegenseitig an. Verdoppelt man die Entfernung jetzt auf 20 Einheiten, so würde bei einer Ionenbindung die Anziehungskraft auf 1/4, nämlich auf 1000 Einheiten reduzieren. Bei einer van-der-Waals-Wechselwirkung dagegen würde die Anziehungskraft auf 1/64, also auf 62,5 Einheiten reduziert werden.

Neuere Erkenntnisse

Allerdings ist nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen diese Formel inzwischen überholt. Forscher vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin haben gemeinsam mit Kollegen in Italien und den USA Berechnungen durchgeführt, die zeigen, dass die van der Waals-Wechselwirkungen viel weitreichender sind als bisher angenommen.

"Dabei stellten sie unter anderem fest, dass die Van-der-Waals-Kraft bei zunehmender Entfernung deutlich langsamer abnimmt als bislang angenommen. Damit ist ihre Reichweite viel größer als aus dem herkömmlichen Modell zu schließen war." [4]

Die Anziehung bei der van der Waals-Wechselwirkungen soll demnach bis zu 100 nm wirken. Das ist weit mehr, als nach der klassischen Formel zu erwarten wäre. Außerdem haben die Forscher herausgefunden, dass es keinen festen Exponenten $r^{6}$ gibt, sondern dass der Exponent mit dem Abstand variiert [4]. Diese theoretischen Berechnungen decken sich nach Aussagen der MPG gut mit den Experimenten, die andere Forscher durchgeführt haben.

Und hier noch ein paar wichtige Fachbegriffe, damit Sie die folgenden Abschnitte besser verstehen können:

  • permanenter Dipol: Ein Molekül mit Atomen unterschiedlicher Elektronegativität wie HCl, H2O, Acton etc. ist ständig ein Dipol.
  • induzierter Dipol: Ein unpolares Molekül oder ein Atom wird durch Einwirkung äußerer Kräfte zu einem Dipol.
  • temporärer Dipol: Ein unpolares Molekül oder ein Atom ist für eine extrem kurze Zeit (temporär) durch Ungleichverteilung von Elektronen zufällig zu einem Dipol geworden.

Falls Sie Schüler(in) der Stufe EF sind und sich nur dafür interessieren, warum sich Alkan-Moleküle gegenseitig anziehen, dann könnten Sie eigentlich die nächsten drei Abschnitte überspringen und gleich zum Abschnitt "Vertiefung: London-Wechselwirkungen" springen. LK-Schüler(innen) und Studierende sollten allerdings die nächsten drei Abschnitte lesen und verstehen.

1. Keesom-Wechselwirkung LK, Studium

Am stärksten sind die Wechselwirkungen zwischen zwei permanenten Dipolen, beispielsweise zwischen zwei Aceton-Molekülen.

Beschreibung siehe folgenden Text

Dipol-Dipol-Wechselwirkung zwischen zwei Aceton-Dipolen
Autor: Ulrich Helmich, Lizenz: siehe Seitenende

Die Sauerstoff-Atome (rot) ziehen die Bindungselektronen der C=O-Doppelbindung stärker an sich als die mittleren C-Atome. Die C=O-Doppelbindung ist also recht polar, was dazu führt, das das gesamte Aceton-Molekül ein permanenter Dipol ist. Wasserstoffbrücken-Bindungen können Aceton-Moleküle untereinander jedoch nicht bilden, dazu fehlen die H-Atome, die an ein elektronegatives O- oder N-Atom gebunden sind. Alle H-Atome des Acetons sind an ein C-Atom gebunden; das reicht nicht aus, um H-Brücken zu bilden.

Diese Art der Wechselwirkung wurde nach nach Willem Hendrik Keesom 1930 als Keesom-Wechselwirkung bezeichnet. Im Schulunterricht und auch an den meisten Hochschulen ist jedoch der Begriff Dipol-Dipol-Wechselwirkung gebräuchlicher, manchmal auch Dipol-Dipol-Kraft.

Interessant bei der Keesom-Wechselwirkung ist, dass sich die beiden permanenten Dipole zueinander ausrichten, so dass die Gesamtenergie des Systems sinkt. Allerdings funktioniert das nur bei relativ niedrigen Temperaturen. Bei höheren Temperaturen ist die thermische Energie der Dipole zu groß für eine solche Ausrichtung, mit anderen Worten: Die Teilchen bewegen sich einfach zu stark [3].

2. Debye-Wechselwirkung LK, Studium

Ein permanenter Dipol wie Aceton kann auch völlig unpolare Moleküle oder Atome anziehen, indem er in diesen Teilchen einen Dipol induziert. Zwischen Aceton und Pentan bestehen zum Beispiel solche Wechselwirkungen, die als Debye-Wechselwirkungen bezeichnet werden und quasi ein Mittelding zwischen Dipol-Dipol-Wechselwirkungen und van-der-Waals-Wechselwirkungen sind.

Beschreibung siehe folgenden Text

Debye-Wechselwirkung zwischen Acetion und Pentan
Autor: Ulrich Helmich, Lizenz: siehe Seitenende

Der permanente Aceton-Dipol verdrängt die Elektronen des Pentan-Moleküls, so dass dort ein temporärer Dipol entsteht (blaue Pfeile).

Ein anderes Beispiel ist das Brom-Molekül Br2, das leicht zu einem temporären Dipol umgewandelt werden kann, wenn es in die Nähe einer elektronenreichen C=C-Doppelbindung kommt, wie es beispielsweise bei der Bromierung eines Alkens der Fall ist. Die Doppelbindung zieht den Br2-Dipol dann an.

3. London-Kräfte LK, Studium

London-Kräfte bestehen zwischen Molekülen oder Atomen, die nicht polar sind, also keinen permanenten Dipol darstellen. Das klassische Beispiel sind zwei H2-Moleküle oder zwei Alkan-Moleküle.

Beschreibung siehe folgenden Text

London-Wechselwirkungen innerhalb eines langen Alkan-Molekükls
Autor: Ulrich Helmich, Lizenz: siehe Seitenende

Langkettige Alkan-Moleküle mit mehr als 16 C-Atomen bilden Haarnadelschleifen, die von schwachen London-Wechselwirkungen zusammengehalten werden [2].

π-π-Wechselwirkungen LK, Studium

Zwischen zwei aromatischen Molekülen gibt es eine besondere Art der van der Waals-Wechselwirkungen, nämlich die sogenannten π-π-Wechselwirkungen [3]. Diese schwache Art der Wechselwirkung ist so benannt, weil die delokalisierten pi-Elektronen der beiden Moleküle miteinander wechselwirken. Die pi-pi-Wechselwirkungen sind stärker als die London-Kräfte, was daran liegt, dass die pi-Elektronen delokalisiert und damit viel beweglicher sind. Die Induktion eines Dipols ist somit wesentlich einfacher als beispielsweise in einem Cycloalkan-Molekül gleicher Größe.

Terminologie Didaktik

Oft versteht man unter van der Waals-Wechselwirkungen alle vier hier genannten Wechselwirkungen, also Keesom-, Debye-, London- und π-π-Wechselwirkungen.

Wenn in Schulbüchern der gymnasialen Oberstufe von van der Waals-Wechselwirkungen oder van der Waals-Kräften bzw. van der Waals-Bindungen die Rede ist, sind aber meistens die London-Kräfte bzw. -Wechselwirkungen gemeint. Die Keesom-Wechselwirkungen werden in Schulbüchern als Dipol-Dipol-Wechselwirkungen bezeichnet, und die Debye-Wechselwirkungen werden oft gar nicht thematisiert.

Im folgenden Abschnitt gehen wir auf die London-Wechselwirkung einmal näher ein, weil es manchmal nicht so einfach zu verstehen ist, wieso sich zwei völlig unpolare Moleküle oder Atome gegenseitig anziehen können.

Vertiefung: London-Wechselwirkungen EF, Q1

Schauen wir uns mal ein völlig unpolares Wasserstoff-Molekül an:

Ein Wasserstoff-Molekül, gezeichnet nach dem Kugelwolkenmodell

Ein Wasserstoff-Molekül, gezeichnet nach dem Kugelwolkenmodell
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

An sich flitzen die beiden Bindungselektronen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit wild in der Kugelwolke herum. Könnte man das Geschehen mit einem normalen Photoapparat mit einer Belichtungszeit von 1/4000 Sekunde festhalten, so würde man die Elektronen allerdings nicht sehen, sondern nur eine unscharfte Wolke. Stellen wir uns nun aber vor, wir hätten eine Kamera mit extrem kurzen Belichtungszeiten von vielleicht 10-9 Sekunden oder noch kürzer. Wenn wir dann eine Aufnahme eines Wasserstoff-Moleküls machten, könnten wir vielleicht so etwas sehen wie in der obigen Abbildung. Die beiden Elektronen halten sich im Augenblick der Aufnahme gerade zufällig in der Mitte der Kugelwolke auf. Die beiden negativen Ladungen sind mehr oder weniger gleichmäßig verteilt, die Bindung ist unpolar.

Machen wir eine neue "Aufnahme", ein paar millionstel Sekunden nach der ersten "Aufnahme":

Beide Elektronen befinden sich in der linken Hälfte der gemeinsamen Kugelwolke
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Zufällig befinden sich beide Elektronen jetzt in der "linken" Hälfte der Kugelwolke. Die rechte Hälfte ist leer. Durch diese Anordnung der beiden Elektronen bildet sich für extrem kurze Zeit ein Dipol, ein temporärer Dipol.

Zwei H2-Moleküle ziehen sich gegenseitig an. Der temporäre Dipol (oben gezeichnet) bewirkt einen induzierten Dipol (unten dargestellt)
Autor: Ulrich Helmich 2021, Lizenz: siehe Seitenende.

Wie das obere Bild sehr schön zeigt, bewirkt ein solcher temporärer Dipol, dass die Elektronen eines anderen Wasserstoff-Moleküls abgestoßen und dadurch in eine "Ecke" des H2-Moleküls gedrängt werden. Es entsteht ein induzierter Dipol, der genau umgekehrt gepolt ist wie der temporäre Verursacher-Dipol.

Die beiden Dipole ziehen sich jetzt für extrem kurze Zeit gegenseitig an.

Ein paar millionstel Sekunden sieht die Sache schon wieder ganz anders aus, weil sich die Elektronen in den Kugelwolken mit extrem hoher Geschwindigkeit bewegen.

Diese temporären Dipolkräfte sind aber dafür verantwortlich, dass unpolare Verbindungen wie Wasserstoff, Methan, Hexan und so weiter bei tiefen Temperaturen flüssig oder sogar fest werden können. Gäbe es diese Kräfte nicht, so wären diese Verbindungen selbst bei den tiefsten Temperaturen gasförmig und nicht wie beispielsweise Hexan bei Zimmertemperatur flüssig. Oder denken Sie an das Element Iod, das ebenfalls aus völlig unpolaren Molekülen besteht. Es ist bei Zimmertemperatur sogar fest - dank der London-Wechselwirkungen zwischen den Iod-Molekülen.

Quellen:

  1. Römpp Chemie-Lexikon, 9. Auflage 1992
  2. Hoffmann R: Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. Spektrum der Wissenschaft 01/2015, S. 72ff
  3. Chemgapedia.de: Schwache Wechselwirkungen in biologischen Systemen.
  4. Max-Planck-Gesellschaft (mpg.de): Van-der-Waals-Kraft besser als gedacht. Ein Artikel vom 10.03.2016.