Biologie > Ökologie > Autökologie

Ökologische Potenz

Temperaturorgel - Toleranzkurven - Ökol. Potenz - Mehrere UWF - Ökol. Nische - UWF Temperatur - Endotherme/ektotherme Tiere - Klimaregeln

Begriffsklärung

Wir wollen die uns von der vorherigen Seite bekannte Graphik noch etwas erweitern:

Die Ökologische Potenz ist der Toleranzbereich zwischen den beiden Pessima

Die Ökologische Potenz ist der Toleranzbereich zwischen den beiden Pessima
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Das Präferendum ist der Bereich innerhalb des Toleranzbereichs, der von den Lebewesen freiwillig aufgesucht wird. In den beiden Pessima kann das Tier oder die Pflanze vielleicht noch gerade so überleben, ist jedoch nicht mehr aktiv. Die Ökologische Potenz ist der Bereich zwischen den beiden Pessima; hier kann der Organismus aktiv leben - freiwillig sucht er aber die Gebiete zwischen Präferendum und Pessimum nicht auf.

Kritische Betrachtung (Nachtrag 2020)

Das Kompaktlexikon der Biologie (Spektrum-Verlag) definiert den Begriff "Ökologische Potenz" etwas breiter:

"ökologische Potenzökologische Toleranz, die Toleranzbreite eines Organismus gegenüber verschiedenen Intensitäten eines Umweltfaktors. Die Toleranz reicht von einem Tiefstwert (Minimum) zu einem Höchstwert (Maximum) der Intensität"

Hier versteht man also unter ökologischer Potenz den gesamten Toleranzbereich einschließlich der beiden Pessima.

Das Lexikon aus dem Thieme-Verlag unterscheidet dagegen eine ökologische Potenz im weiteren Sinn und eine ökologische Potenz im engeren Sinn:

"Das Vermögen eines Lebewesens, einer Art oder einer Rasse, Einwirkungen von (abiotischen) Ökofaktoren zu tolerieren (= ökologische Toleranz) und (nach einer strengeren Definition) sich dabei fortzupflanzen" 

Die ökologische Potenz im weiteren Sinne umfasst also die gesamte Toleranzkurve bzw. den gesamten Toleranzbereich einschließlich der beiden Pessima, während die ökologische Potenz im engeren Sinne nur den Bereich umfasst, in dem sich die Lebewesen fortpflanzen können. Das ist auf der Toleranzkurve der Bereich zwischen den beiden Pessima.

Nach dem Ergebnis dieser beiden Recherchen müssten wir unsere Abbildung also etwas ergänzen bzw. aktualisieren:

Die Ökologische Potenz ist der Toleranzbereich zwischen den beiden Pessima

Die Ökologische Potenz im weiteren und im engeren Sinn
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Warum leben Organismen überhaupt außerhalb des Präferendums?

Was kann ein Tier oder eine Pflanze dazu bewegen, sich in einem Bereich links oder rechts vom Präferendum aufzuhalten bzw. anzusiedeln? Wenn dem Lebewesen ideale Bedingungen zur Verfügung stehen (keine Feinde, keine Konkurrenten etc.) siedelt es sich doch gerne irgendwo im Präferendum an.

Durch die Anwesenheit eines Fressfeindes, aber auch durch zu viele Konkurrenten der eigenen Art (innerartliche Konkurrenz) oder fremder Arten (zwischenartliche Konkurrenz) kann es dazu kommen, dass sich das Lebewesen in Bereichen der Umwelt ansiedeln muss, wo keine idealen Bedingungen mehr herrschen - also außerhalb des Präferendums. Auch abiotische Faktoren wie schlechtes Wetter, Kälte, Trockenheit etc. können dazu führen.

Der Einfluss innerartlicher Konkurrenz

Den Einfluss innerartlicher Konkurrenz kann man sehr schön auf der Temperaturorgel oder in anderen ähnlichen Versuchsanordnungen beobachten.

Ein ideales Verteilungsdiagramm der Mehlwürmer in der Temperaturorgel

Verteilung der Mehlwürmer in der Temperaturorgel
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Eigentlich müssten doch alle Tiere sich in einem "angenehmen" Temperaturbereich aufhalten, so zwischen 18 und 27 Grad Celsius vielleicht. Wieso findet man einige Tiere bei Temperaturen zwischen 6 und 10 Grad oder zwischen 36 und 40 Grad? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Individuen solche extremen Temperaturen freiwillig aufsuchen. Ist es nicht vielmehr so, dass diese Tiere eigentlich auch gern im angenehmen Temperaturbereich wären, aber vielleicht von stärkeren Tieren in die Randgebiete abgedrängt werden? In der Tat ist die innerartliche (intraspezifische) Konkurrenz hier der entscheidende Faktor für die Verteilung der Lebewesen innerhalb des Toleranzbereichs.

Methodik: Wie könnte man experimentell untersuchen, ob die eben aufgestellte Behauptung korrekt ist?

Ganz einfach: Man dürfte nicht 100 oder 200 Tiere gleichzeitig in die Temperaturorgel setzen, sondern immer nur jeweils 10 oder maximal 20 Tiere, je nachdem wie viel Platz der Apparat bietet. Im Extremfall könnte man einzelne Tiere in das Gefäß setzen und beobachten, wo sie sich ohne den Einfluss von Konkurrenz aufhalten. Würden sich dann alle Tiere sich im "gemäßigten" Temperaturbereich aufhalten, so wäre die Behauptung bestätigt, dass die Randbereiche nur durch die Wirkung der innerartlichen Konkurrenz besetzt werden.

Ist so ein Versuch schon einmal gemacht worden? Das wäre doch mal ein schönes Thema für eine Staatsexamensarbeit, eine Bachelorarbeit, eine Masterarbeit oder Ähnliches.

Der Einfluss zwischenartlicher Konkurrenz

Aber innerartliche Konkurrenz ist nur ein Faktor, ein anderer wichtiger Faktor ist die zwischenartliche Konkurrenz. Hierzu hat man in den 50er Jahren einen tollen Versuch gemacht, nämlich den Hohenheimer Grundwasserversuch.

Methodik:
Der Hohenheimer Grundwasserversuch
Durchführung, Teil 1:

Man benötigt Samen von drei Grasarten, nämlich Wiesenfuchsschwanz, Glatthafer und Aufrechte Trespe.

Nun legt man vier längliche Beete an, die so konstruiert ist, dass das eine Ende jeweils sehr feucht ist, das andere Ende aber sehr trocken. Das erreicht man, indem man die Beete mit einer leichten Steigung baut und von unten mit Feuchtigkeit versorgt. Das flache untere Ende erhält dadurch recht viel Wasser, das höhere obere Ende jedoch recht wenig Wasser:

Ein Beet des Hohenheimer Grundwasserversuchs

Ein Beet des Hohenheimer Grundwasserversuchs, seitlich betrachtet.
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

In das erste Beet sät man gleichmäßig verteilt den Wiesenfuchsschwanz, in das zweite Beet den Glatthafer, und in das dritte Beet die Aufrechte Trespe.

Beobachtungen, Teil 1:

Alle drei Grasarten wachsen im mittleren Bereich des Beetes am besten, also dort, wo es noch angenehm feucht und noch nicht zu trocken ist. In den feuchten und in den trockenen Randbereichen wachsen die drei Gräser nicht so gut.

Die Schlussfolgerung aus diesem Versuch ist zunächst noch nicht besonders spektakuläre: Alle drei Grasarten scheinen mesohygr zu sein, bevorzugen also eine mittlere Bodenfeuchtigkeit ("hygr" ist die Silbe für Bodenfeuchtigkeit, "meso" heißt "mittel").

Aber warten Sie - es geht noch weiter…

Durchführung, Teil 2:

In das vierte Beet sät man eine Mischung der Samen der drei Grasarten - die sogenannte Mischsaat.

Beobachtungen, Teil 2:

Der Wiesenfuchsschwanz wächst im feuchten Bereich des schrägen Bodens sehr gut. In den anderen Bereichen ist er so gut wie nicht anzutreffen. Die Aufrechte Trespe dagegen wächst im trockenen Bereich des Beetes sehr gut, sie ist in den feuchten und mittelfeuchten Gebieten kaum anzutreffen. Hier findet man vor allem den Glatthafer. Der Glatthafer wiederum wächst in den feuchten und trockenen Stellen recht schwach.

Die Schlussfolgerung aus diesem Teil wäre folgende: Der Wiesenfuchsschwanz BEVORZUGT feuchten Boden, die Aufrechte Trespe BEVORZUGT trockenen Boden, und der Glatthafer BEVORZUGT mittelfeuchten Boden.

siehe folgenden Text

Schematische Darstellung des Hohenheimer Grundwasserversuchs
Autor: Ulrich Helmich 2017, Lizenz: siehe Seitenende.

Hier noch einmal eine schematische Darstellung des Hohenheimer Grundwasserversuchs. Die drei Grasarten werden durch unterschiedlich farbige bunte Kreise repräsentiert.

Hat dieser berühmte Versuch jetzt tatsächlich einen Bezug zur Natur?

Tatsächlich findet man in der freien Natur den Glatthafer eher auf mittelfeuchtem Boden, den Wiesenfuchsschwanz eher auf feuchtem Boden und die Aufrechte Trespe eher auf trockenem Boden - aber dass die Gräser ihre Bodensorte BEVORZUGEN stimmt ja nicht, wenn man den ersten Teil des Hohenheimer Grundwasserversuchs kennt. Alle drei Grasarten BEVORZUGEN den mittelfeuchten Boden. Aber offensichtlich ist der Glatthafer die konkurrenzstärkste Art und verdrängt die beiden anderen Arten in die weniger optimalen Bereiche des Umweltfaktors Bodenfeuchte.

Kommen wir nun zu zwei wichtigen Definitionen:

Autökologisches bzw. physiologisches Präferendum

Der Vorzugsbereich einer Art, wenn keine interspezifische Konkurrenz vorhanden ist.

Synökologisches bzw. ökologisches Präferendum

Der Vorzugsbereich einer Art in Anwesenheit von interspezifischer Konkurrenz.

Das physiologische Präferendum des Wiesenfuchsschwanzes liegt zum Beispiel im Bereich mittlerer Feuchte, während das ökologische Präferendum im Bereich hoher Feuchte liegt.

Noch etwas zeigt uns der Hohenheimer Grundwasserversuch, nicht nur den Unterschied zwischen physiologischem und ökologischem Präferendum. Zwei Arten mit den gleichen physiologischen bzw. autökologischen Ansprüchen können nicht im gleichen Lebensraum zusammen leben, nicht koexistieren. Die konkurrenzschwächere Art stirbt entweder aus oder sie betreibt Konkurrenzvermeidung durch Ausweichen in einen nicht-optimalen Bereich.