Helmichs Biologie-Lexikon

Artkonzepte

Morphologisches Artkonzept

Dieses Artkonzept ist jedem biologischen Laien vertraut. Man betrachtet ein Tier oder eine Pflanze und erkennt die Art an dem äußeren Erscheinungsbild des Lebewesens. Ist man sich dabei nicht ganz sicher, nimmt man sich ein Bestimmungsbuch oder neuerdings auch eine Bestimmungs-App und vergleicht das Tier oder die Pflanze mit den Abbildungen oder versucht mit Hilfe eines Bestimmungsschlüssels die Art genau zu bestimmen. Dieser Betrachtungsweise liegt das sogenannte Morphologische Artkonzept zu Grunde, das ursprünglich von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné augestellt wurde, streng genommen sogar noch eher, nämlich von dem griechischen Philosophen Plato:

"Arten verkörpern konstante Gruppen von Objekten, die definierte Merkmale teilen, und durch Unterschiede von anderen getrennt sind" [2].

Kritik am morphologischen Artkonzept

Dieses Artkonzept geht auf die Ideen Platons zurück, nach denen die uns real erscheinenden Lebewesen (und andere Objekte) nur Projektionen eines Idealtyps sind (Höhlengleichnis). Es gibt also "Das Pferd", und alle Pferde sehen (in etwa) gleich aus. Abweichungen von diesem Idealtyp sind nur minimal.

In Wirklichkeit gibt es innerhalb einer Population von Lebewesen eine große phänotypische Variabilität, die teils auf genotypische Variabilität, teils auf Umwelteinflüsse zurückzuführen ist. Auch gibt es Arten, vor allem bei Insekten, die während ihres Lebens ihr äußeres Erscheinungsbild verändern, man denke nur an Schmetterlinge und die verschiedenen Stadien: Raupe, Puppe, Schmetterling. Auch sind häufig Sexualdimorphismen anzutreffen, also auffallende Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Vertretern der Art. Linné hatte das bei der Stockente beispielsweise nicht erkannt. Er ordnete die männliche und die weibliche Stockente zwei verschiedenen Arten zu [4]. Oft unterscheiden sich auch Jungtiere und adulte Tiere bzw. Pflanzen stark voneinander [3].

Schließlich gibt es sogenannte Zwillingsarten. Das sind Arten, die sich rein äußerlich überhaupt nicht voneinander unterscheiden, die sexuell aber völlig voneinander isoliert sind, sich also nicht untereinander fortpflanzen können. Zwei bekannte Beispiele für Zwillingsarten aus der heimischen Tierwelt sind die Singvögel Fitis und Zilpzalp sowie Gartenbaumläufer und Waldbaumläufer. Zwar sind die Arten jeweils sehr eng verwandt, stammen also von der gleichen Ursprungsart ab, aber sie sind durch ihren unterschiedlichen Gesang reproduktiv voneinander isoliert [5].

Ein weiteres Beispiel für Zwillingsarten sind die beiden Laubfroscharten Hyla versicolor und Hyla chrysoscelis. Beide Arten sehen morphologisch völlig gleich aus, allerdings ist H. versicolor eine tetraploide Art, während H. chrysoscelis diploid ist. Außerdem haben die Männchen unterschiedliche Paarungsrufe [3].

Biologisches Artkonzept

Das für die Evolutionsbiologie und damit für die gesamte Biologie wohl wichtigste Artkonzept ist das Biologische Artkonzept, das von Ernst Mayr entwickelt wurde:

"Arten sind Gruppen von sich miteinander kreuzenden natürlichen Populationen, die von anderen Gruppen reproduktiv isoliert sind." [1]

Der Schwerpunkt dieser Definition liegt auf der erfolgreichen Fortpflanzung innerhalb der Art. Die Nachkommen dieser Fortpflanzung müssen allerdings selbst auch wieder fortpflanzungsfähig sein.

Pferd und Esel können zwar gemeinsame Nachkommen hervorbringen (MaultierMaulesel), diese sind aber steril, können sich also nicht mehr fortpflanzen. Pferd und Esel gehören also nicht zur gleichen biologischen Art bzw. Biospezies.

In seiner 2002 revidierten Form liest sich dieses biologische Artkonzept wie folgt:

"Biologische Arten sind Gruppen von Populationen, die sich untereinander (potentiell oder tatsächlich) fortpflanzen, von anderen Gruppen fortpflanzungsmäßig isoliert sind und eine spezifische Nische in der Natur einnehmen" [2].

Das Ergebnis einer divergierenden Selektion sind zwei Teilpopulationen, die nicht unbedingt räumlich getrennt sein müssen; es reicht, wenn sie in unterschiedlichen ökologischen Nischen leben. Eine Fortpflanzung findet dann nur noch innerhalb der Teilpopulation statt. Wenn sich zwei Individuen aus den beiden Teilpopulationen aber theoretisch noch untereinander fruchtbar fortpflanzen können (zum Beispiel im Laborversuch), dann gehören sie nach diesem Artbegriff noch der selben Art an, selbst wenn sie durch die unterschiedlichen Einnischungsprozesse schon sehr unterschiedlich aussehen.

Kritik am biologischen Artkonzept

Der Hauptkritikpunkt ist der, dass sich das biologische Artkonzept nicht auf Arten anwenden lässt, die sich ausschließlich ungeschlechtlich fortpflanzen. Auch bei Arten mit parthenogenetischer Fortpflanzung ("Jungfernzeugung") ist das biologische Artkonzept problematisch. Außerdem lässt sich das Artkonzept nicht auf Arten anwenden, die bereits ausgestorben sind.

Und dann gibt es das Problem, dass Lebewesen, die nach gängiger Meinung unterschiedlichen Arten angehören, in der Natur doch fortpflanzungsfähige Hybriden hervorbringen können.

Das Beispiel der Schaufelfußkröten [6]

In den USA leben in den südlichen Wüsten zwei Arten von Schaufelfußkröten, nämlich die Flachland-Schaufelfußkröten (Spea bombifrons) und die Gebirgs-Schaufelfußkröten (Spea multiplicata). Die Namen beschreiben schon ganz gut, wo die beiden Arten normalerweise ihr Leben verbringen.

Kröten gehören ja zu den Amphibien, sind also stets auf viel Feuchtigkeit angewiesen, was in der Wüste ein großes Problem ist. Daher verstecken sich die Kröten meistens unter der ausgedörrten Erde, wo es einigermaßen kühl ist.

Wenn sich nach starken Gewittern in der Wüste kleine Tümpel bilden, nutzen die Kröten beider Arten die Gelegenheit zur Fortpflanzung. Die Eier schlüpfen, und kleine Kaulquappen schlüpfen. Allerdings entwickeln sich die Kaulquappen von S. bombifrons langsamer als die von S. multiplicata.

Die Tümpel in der Wüste trocknen sehr schnell aus. Die Kaulquappen von S. bombifrons müssen sich also ziemlich beeilen, wenn sie zur fertigen Kröte werden wollen, bevor der Tümpel ausgetrocknet ist. Die Kaulquappen von S. multiplicata haben dagegen schließen meistens ihre Entwicklung ab, bevor die Tümpel ausgetrocknet sind.

Und was machen jetzt die Weibchen von S. bombifrons, die noch nie etwas von dem biologischen Artkonzept gehört haben?

"In some cases, female spadefoot toads will choose to mate with Spea multiplicata rather than with males of their own species, if the resulting hybrid tadpole would have higher chances of survival." [7]

Sie paaren sich mit Männchen von S. multiplicata. So entstehen hybride Kaulquappen, die sich etwas schneller entwickeln, als reinblütige S. bombifrons-Kaulquappen. Diese Mischlinge haben zwar eine geringere Fitness als die reinrassigen S. bombifrons- und S. multiplicata-Kröten, aber sie sind durchaus fruchtbar. Nach dem biologischen Artkonzept müsste man also zu dem Schluss kommen, dass die beiden Arten zu ein und derselben Art gehören.

Phylogenetisches Artkonzept

Noch aktueller und stärker evolutionsbiologisch ausgerichtet ist das Phylogenetische Artkonzept. Danach werden Arten als Zweige am Stammbaum der Lebewesen betrachtet [3]. Durch allopatrische oder sympatrische Artbildungsmechanismen kann sich eine Art in zwei neue Arten aufspalten.

"Jede Art entsteht stammesgeschichtlich durch ein Artbildungsereignis, also die Verzweigung einer Linie des Stammbaums in zwei Äste, und endet entweder mit dem Aussterben der Art oder einem weiteren Artbildungsereignis, durch das aus ihr zwei Tochterarten hervorgehen." [3]

Dieser Prozess kann langsam und kontinuierlich verlaufen, so dass die Zwischenstufen unmerklich ineinander übergehen. Diskutiert werden aber schnelle Artbildungsprozesse durch größere Mutationen (Polyploidie, also Verdopplung oder Vervierfachung des Chromosomensatzes) oder Mutation in Genen, welche die Entwicklung des Individuums steuern.

Quellen:

  1. "Was ist eine Art? - Artkonzepte im Vergleich", ein Artikel der Chemgapedia.
  2. "Das ist doch keine Art", eine Präsentation zur öffentlichen Ringvorlesung "Auf den Begriff gebracht" der Uni Münster.
  3. Savada, Hillis, Heller, Hacker: Purves Biologie, Springer Verlag Deutschland 2019, 10. Auflage. Herausgegeben von Jürgen Markl.
  4. "Art (Biologie) - morphologisches Artbkonzept", Wikipedia
  5. "Zwillingsart", Wikipedia
  6. Zrzavý, Burda, Storch, Begall, Mihulka: Evolution, ein Lese-Lehrbuch, Berlin, Heidelberg, 2009, 2013.
  7. "Plains spadefoot toad" (engl. Wikipedia)