Helmichs Biologie-Lexikon

Toleranzkurve

Unter einer Toleranzkurve versteht man in der Biologie eine graphische Darstellung der Reaktion einer Population auf einen oder mehrere Umweltfaktoren. Das folgende Bild zeigt die Reaktion einer Population auf den Umweltfaktor Temperatur:

Eine Toleranzkurve mit Minimum, Optimum, Maximum und Pessimum

Wird nur ein Umweltfaktor berücksichtigt, zeichnet man eine eindimensionale Toleranzkurve. Auf der waagerechten Achse wird die Intensität des Umweltfaktors aufgetragen (hier die Temperatur in Grad Celsius von 0 bis +45 °C) und auf der senkrechten Achse wird die Zahl der Individuen aufgetragen, die man in dem jeweiligen Bereich vorfindet (zum Beispiel wenn man 100 Käfer in eine Temperaturorgel setzt).

Den niedrigsten Wert des Umweltfaktors, den die Lebewesen gerade noch tolerieren können, ohne zu sterben, bezeichnet man als Minimum. Entsprechend wird der höchste Wert des Umweltfaktors als Maximum bezeichnet.

Bei der Temperaturtoleranz (Umweltfaktor = Temperatur) wird das Minimum häufig durch die Bildung von Eiskristallen in den Zellen bestimmt, das Maximum dagegen durch die Denaturierung wichtiger Enzyme. Unterschreitet der Umweltfaktor das Minimum, sterben die Individuen. Genau das Gleiche passiert, wenn der Umweltfaktor das Maximum überschreitet.

Hinsichtlich des Toleranzbereiches unterscheidet man mehrere Abschnitte bzw. Spannbreiten. Der Begriff Toleranzbereich umfasst den gesamten Bereich (hier Temperatur) zwischen Miniumum und Maximum, in dem Individuen der Population lebensfähig sind. Besser gesagt: nicht tot sind. Denn in den beiden Pessima können die Lebewesen zwar noch existieren, aber nur unter sehr starken Einschränkungen (zum Beispiel Kältestarre).

Als ökologische Potenz bezeichnet man üblicherweise den Toleranzbereich ohne die beiden Pessima, hier können die Individuen der Population mehr oder weniger gut leben, ohne dass sie starke Einschränkungen in Kauf nehmen müssen.

Das Präferendum ist der Bereich innerhalb der ökologischen Potenz, den die Lebewesen unter normalen Umständen freiwillig aufsuchen, und das Optimum ist der Bereich innerhalb des Präferendums, der am liebsten von den Lebewesen aufgesucht wird, wo man also normalerweise die meisten Individuen antreffen kann.

Problem / Kritik

Toleranzkurven können auf die unterschiedlichste Weise gewonnen werden. Wenn auf der senkrechten Achse die Zahl der Individuen zu sehen ist, die man in dem betreffenden Bereich antrifft (zum Beispiel in einer Temperaturorgel), so fragt man sich doch, wieso sich überhaupt Lebewesen im Pessimum aufhalten. Dies ist doch eigentlich ein Bereich, der auf gar keinen Fall freiwillig aufgesucht werden sollte. Ebenso wenig wie der Pejus, der Bereich zwischen Pessimum und Präferendum (in der obigen Abbildung weiß gezeichnet). Eigentlich sollten sich doch alle Tiere oder Pflanzen der Population im Präferendum aufhalten.

Das Problem ist häufig, dass bei der Erhebung solcher Toleranzkurven nicht zwischen physiologischer und ökologischer Toleranz unterschieden wird. Unter Laborbedingungen verhalten sich Pflanzen und Tiere häufig völlig anders als unter Freilandbedingungen (siehe beispielsweise Hohenheimer Grundwasserversuch). Setzt man nur wenige Tiere in eine Temperaturorgel oder sät man nur wenige Pflanzen in einer Feuchtigkeitsorgel aus, so wird man keine Individuen finden, die sich in einem Pessimum aufhalten. Unter Konkurrenzbedingungen jedoch, sei es innerartliche Konkurrenz, weil man sehr viele Individuen untersucht, sei es zwischenartliche Konkurrenz, weil man konkurrenzstärkere Arten mit in den Versuch einbezieht, kann es schon vorkommen, dass einige Individuen bzw. ganze Populationen in weniger günstige Gebiete ausweichen müssen, wenn sie überleben wollen. Daher sind solche Formulierungen wie "der Wiesenfuchsschwanz bevorzugt feuchte Wiesen" immer mit Vorsicht zu genießen. Der Hohenheimer Grundwasserversuch hat doch eindeutig gezeigt, dass die Pflanze, wenn keine konkurrierenden Arten anwesend sind, eher mittelfeuchte bis trockene Wiesen bevorzugt. Nur in Anwesenheit konkurrenzstärkerer Arten wie zum Beispiel Glatthafer zieht sich der Wiesenfuchsschwanz in feuchtere Gebiete zurück.