Helmichs Biologie-Lexikon

Endosymbionten-Theorie

Nach der Endosymbiontentheorie nimmt man an, dass sich die Eukaryoten aus den Prokaryoten entwickelt haben.

Möglicher Ablauf der Endosymbiose

Das am meisten vertretene Szenario ist die Phagocytose-Hypothese. Nach dieser Hypothese haben größere Archaeen kleine Bakterien (Eubacteria) phagocytiert. In der Regel wird solche Nahrung dann in Vesikel eingeschlossen, die mit Verdauungsenzymen gefüllt sind, so dass die "Beute" verdaut werden kann.

Irgendwann kam es dann einmal dazu, dass sich ein solches phagocytiertes Bakterium nicht verdauen ließ. Vielleicht war es durch eine zufällige Mutation immun gegen die Verdauungsenzyme, oder vielleicht war es sogar ein Parasit, der in das Archaebakterium eingedrungen ist, um sich von dessen Produkten zu ernähren.

Bildung der Mitochondrien

Wenn diese Beute / dieser Parasit nun zufällig in der Lage war, organische Nährstoffe mit Hilfe von Sauerstoff zu verbrennen (Glycolyse - Citratzyklus - Atmungskette), dann konnte der große Wirt sogar von der Beute bzw. dem Parasiten profitieren, denn dieser konnte ihm das wertvolle ATP zur Verfügung stellen. Als Gegenleistung schützte der Wirt die eingedrungene Zelle und stellte ihr Nährstoffe wie Glucose zur Verfügung. Aus den eingedrungenen aeroben Prokaryoten wurden dann im Laufe der Zeit die Mitochondrien der Eukaryoten.

Nach einer Hypothese konnten die Archaeen nicht besonders gut mit dem Sauerstoff umgehen, den die ersten photosynthetisch aktiven Prokaryoten (Cyanobakterien) als Abfallprodukt in das Wasser bzw. die Luft entließen. Ein Endosymbiont, der den schädlichen Sauerstoff verbraucht und dabei sogar ATP herstellt, war daher ein großer Überlebensvorteil für den Wirt.

Das Two-merger-Modell

In der Biologie werden zwei verschiedene Modelle der Endosymbiose diskutiert, die als "one-merger-model" und "two-merger-model" bezeichnet werden. Dabei ist das "two-merger-model" das populärere der beiden.

Nach dem Two-merger-Modell (jetzt habe ich den Begriff mal eingedeutscht) wurde in einem ersten Schritt ein Eubakterium in eine Archaeenzelle aufgenommen, die dann zum späteren Zellkern wurde. Dieses Ereignis geschah vor ca. 2,7 Milliarden Jahren [6]. 700 Millionen Jahre später, also vor 2,0 Milliarden Jahren, wurde von diesen Zellen dann ein Sauerstoff verwertendes und ATP-produzierendes Bakterium aufgenommen, aus dem dann die Mitochondrien entstanden sind.

Nach dem One-merger-Modell geschahen beide Ereignisse gleichzeitig, also die Bildung des Zellkerns und die Entstehung der Mitochondrien.

Bildung der Chloroplasten

Die ersten "Pflanzen" entstanden 400 Millionen Jahre später, also vor ca. 1,6 Milliarden Jahren. Ein großer Eukaryot mit Zellkern und Mitochondrien nahm durch Phagocytose (oder durch Eindringen eines Parasiten) ein photosynthetisch aktives und O2-produzierendes Cyanobakterium auf. Daraus haben sich dann später die Chloroplasten der grünen Pflanzen entwickelt.

Erst Chloroplasten, dann Mitochondrien ?

Einige wenige Forschende und noch weniger richtige Forscher(innen) nehmen an, dass die Cyanobakterien zuerst aufgenommen wurden und erst später die O2-verwertenden Bakterien. Der Sauerstoff, den die Cyanobakterien in der Eukaryotenzelle freisetzen, wäre nach dieser Hypothese schädlich für die Zelle gewesen. Durch Aufnahme eines O2-verwertenden Bakteriums hatten diese Zellen dann aber einen Selektionsvorteil, da diese Bakterien den O2-Gehalt in den Eukaryotenzellen stark verringerten. Allzu verbreitet ist diese Hypothese allerdings nicht, die meisten genetischen Daten wie zum Beispiel Vergleiche der Basensequenzen ribosomaler RNAs sprechen auch dagegen.

Probleme bei der Endosymbiose

Sowohl die Bildung der Mitochondrien wie die der Chloroplasten setzt eine Phagocytose voraus. Eine Phagocytose kann aber nur dann funktionieren, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:

Erstens muss die Zellmembran sehr flexibel sein, sonst kann sie sich nicht zu Taschen in der Zellmembran "verbiegen" und dann zu geschlossenen Vesikeln verschmelzen. Damit eine Membran zu solchen Leistungen in der Lage ist, müssen bestimmte Membranlipide anwesend sein, nämlich Sterole und mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Solche Membranlipide fehlen aber bei den meisten der heute lebenden Prokaryoten.

Zweitens müssen bestimmte Proteine im Cytoplasma vorhanden sein, damit sich Taschen in der Membran und schließlich Vesikel bilden können, beispielsweise Aktin. Auch solche Proteine kommen normalerweise nicht in Prokaryoten vor.

Diese Voraussetzungen mussten vor allem für die Aufnahme der aeroben O2-verwertenden Bakterien erfüllt sein, damit die Mitochondrien entstehen konnten. Die Aufnahme der Cyanobakterien erfolgt erst später, nachdem die Eukaryoten schon entstanden waren.

Diese beiden genannten Probleme wurden aber durch die Entdeckung von Tiefsee-Archaeen (Lokiarchaeota) entkräftet, die genau die fehlenden Proteine sowie flexible Membranen besitzen.

Lokiarchaeota als Vorgänger der Eukaryoten

Diese zu den Archaeen zählenden Prokaryoten besitzen Gene für Proteine, wie sie auch bei Eukaryoten vorkommen.

Zu nennen wären hier einmal Gene für GTPasen, die an der Regulation des intrazellulären Vesikel-Transports beteiligt sind. Außerdem besitzen die L. Gene für Proteine, die dem eukaryotischen Aktin ähneln. Bei Eukaryoten ist Aktin wichtig für die Phagocytose. Allerdings konnte man bisher noch nicht nachweisen, dass die Vertreter der L. zur Phagocytose fähig sind [4,5].

Zumindest ist es eine valide Hypothese, dass einige Lokiarchaeota vor Urzeiten aerobe Bakterien phagocytiert und dann als Symbionten genutzt haben, aus denen dann im Laufe der Evolution die Mitochondrien entstanden sind. Somit wären die L. die direkten Vorfahren aller Eukaryoten.

Eine kleine Zeittafel der Eukaryoten-Entstehung

Zur besseren Orientierung betrachten wir hier eine Zeittafel des Two-merger-Modells, die ich nach Daten aus [6] und [7] erstellt habe:

Zeitraum
in Milliarden Jahren
Ereignis
4,7 Entstehung der Erde
4,2 LUCA (erste Zelle)
3,8 Aufspaltung in Archaeen und Bakterien
2,7 Archaebakterium nimmt Eubakterium auf, Bildung des Zellkerns
2,0 Endosymbiose eines aeroben Protobakteriums, Bildung von Mitochondrien
1,6 Aufnahme eines Cyanobakteriums, Bildung von Chloroplasten

Eigentlich müsste man von einem Three-merger-Modell sprechen, wenn man die Aufnahme der Cyanobakterien mit berücksichtigt.

Belege für die Endosymbionten-Theorie

Für diese Endosymbiontentheorie sprechen viele Tatsachen. Wir wollen zunächst die bekannten Argumente nennen, wie sie auch in den meisten Schulbüchern genannt werden.

"Populäre" Belege
  • Chloroplasten und Mitochondrien sind ungefähr so groß wie durchschnittliche Bakterien.
  • Chloroplasten und Mitochondrien sind von einer doppelten Membran umgeben, genau wie ein durch Phagocytose aufgenommenes Bakterium.
  • Die chemische Zusammensetzung der inneren Membran der Chloroplasten und Mitochondrien entspricht recht genau der Zusammensetzung der Membranen von Cyanobakterien bzw. aeroben Bakterien.
  • Chloroplasten und Mitochondrien besitzen die gleichen Ribosomen wie Prokaryoten, nämlich 70 S - Ribosomen. Im Zellplasma eukaryotischer Zellen sind dagegen größere 80 S - Ribosomen vorhanden.
  • Chloroplasten und Mitochondrien besitzen eine ringförmige DNA, genau wie die meisten Prokaryoten.
  • Chloroplasten und Mitochondrien vermehren sich genau wie Prokaryoten durch Zweiteilung.

Diese Argumente müssen eigentlich nicht mehr erläutert werden, sie sind ein anerkannter Beweis für die Endosymbionten-Hypothese.

Weniger bekannte Belege

Kommen wir nun zu weiteren Belegen, die man eher in der Fachliteratur finden kann.

Chloroplasten- und Mitochondrien-DNA

Die Chloroplasten-DNA ähnelt auch in ihrer Basensequenz der DNA von Cyanobakterien, während die Mitochondrien-DNA ähnlich aufgebaut ist die die DNA bestimmter aerober Bakterien. Genau wie bei den Prokaryoten ist die DNA der Chloroplasten und Mitochondrien nicht mit Histonen verbunden. Die Initiation der Translation verläuft bei Chloroplasten und Mitochondrien nach dem gleichen Mechanismus wie bei Prokaryoten. An den 80 S - Ribosomen im Cytoplasma läuft die Initiation der Translation anders ab.

Allerdings sind im Laufe der Evolution viele der ursprünglichen Gene der Mitochondrien und Chloroplasten verloren gegangen. Ein anderer Teil dieser ursprünglichen Gene wurde in das Haupt-Genom der Wirtszellen integriert. In menschlichen Zellen codieren Mitochondrien-Gene nur noch für 13 Proteine, zwei rRNAs und 22 tRNAs [1].

Membranlipide

Während in der Zellmembran von Eukaryoten Cholesterin vorkommt (und nicht wenig!), enthält die innere Membran der Chloroplasten und Mitochondrien enthält kein Cholesterin - genau wie die Membran von Prokaryoten.

Die innere Membran der Mitochondrien enthält dagegen ein Lipid, das sonst nur in Bakterien vorkommt, nämlich Cardiolipin, ein Phospholipid mit vier (!) Fettsäure-Resten.

Zellskelett

Chloroplasten und Mitochondrien besitzen genau wie die Prokaryoten kein Zellskelett, weil ihnen die dafür erforderlichen Proteine fehlen, vor allem Actin.

Chlorophyll

Die Chlorophyll a/b-Zusammensetzung der Chloroplasten entspricht ziemlich genau dem Verhältnis in bestimmten Cyanobakterien.

Alternativen zur Endosymbiontentheorie

Eine Alternative zur Endosymbionten-Hypothese, die ernsthaft diskutiert wird, ist die "autogenous hypothesis" [4]. Vor allem für die Entwicklung des endoplasmatischen Reticulums und der Kernhülle sowie des Golgi-Apparates könnte diese Hypothese durchaus zutreffend sein - weniger für die Bildung der Chloroplasten und Mitochondrien.

Nach dieser Hypothese sind die oben genannten Organellen durch Einstülpung der äußeren Membran eines Prokaryoten entstanden.

Diese Hypothese hat aber das gleiche Problem wie die Endosymbionten-Hypothese: Die ursprünglichen Prokaryoten hatten nicht die erforderlichen Proteine und Membranlipide, die ein Einstülpen der Zellmembran oder gar eine Phagocytose möglich machten.

Die meisten der oben genannten Belege, die für die Endosymbionten-Hypothese sprechen, kann die autogene Hypothese nicht erklären. Beispielsweise die doppelte Membran der Chloroplasten und Mitochondrien oder die chemische Zusammensetzung der inneren Membran.

Andererseits kann die anerkannte Endosymbionten-Hypothese die Entstehung des Endoplasmatischen Reticulums, der Kernhülle und des Golgi-Apparates nicht erklären. Die Bildung dieser Strukturen könnte durchaus so abgelaufen sein, wie es die autogene Hypothese vorschlägt.

Daher ist die autogene Hypothese eigentlich keine Alternative zur Endosymbionten-Theorie, sondern eine gute Ergänzung.

Quellen:

  1. Alberts et al. Molekularbiologie der Zelle, 6. Auflage, Weinheim 2017.
  2. Neukamm, Beyer, "Die Endosymbiontentheorie - Allgemeine Grundlagen, Fakten, Kritik" auf Evolutionsbiologie.net.
  3. Kurzmitteilung in Biologie in unserer Zeit, Heft 1/2023, S. 7.
  4. Niklas, Plant Evolution: An Introduction to the History of Life. The University of Chicago Press.
  5. Wikipedia, Artikel "Lokiarchaeota".
  6. Hedges, Kumar. The Timetree of Life, Oxford 2009.
  7. Willis, McElwain. The Evolution of Plants, Oxford 2014